lateinische Schrift: Die Entstehung einer abendländischen Schriftkultur

lateinische Schrift: Die Entstehung einer abendländischen Schriftkultur
lateinische Schrift: Die Entstehung einer abendländischen Schriftkultur
 
»Worte vergehen, aber Geschriebenes bleibt bestehen.« So bringt das mittelalterliche Sprichwort auf den Punkt, was die Römer, nachdem sie in vorchristlicher Zeit an einem griechischen Alphabet die Fähigkeit zu schreiben erlernt hatten, in den von ihnen beherrschten oder beeinflussten Ländern Europas in Zusammenhang mit der Christianisierung bewirkt haben: ein Schrift- und Buchwesen, das antike Texte ebenso wie Geschichte und Literatur der abendländischen Völker für die Nachwelt bewahrte und das in der Institution »Schule« so vermittelt wurde, dass heute lateinisches Alphabet und lateinische Schrift weltweit in Gebrauch sind.
 
Dieses europäische Kulturphänomen, das sich in einer Fülle handgeschriebener Texte und Bücher aus dem Mittelalter offenbart, verlangt Antworten darauf, wer wo, womit, worauf und wie geschrieben hat. Dabei ist von zwei Grundbedingungen auszugehen: Durch Schreiben per Hand entsteht nur ein Exemplar, durch Abschreiben lediglich ein zweites; erst die Erfindung des Buchdrucks um 1450 ermöglichte es, von einem aus Holz- oder Bleibuchstaben bestehenden Blocksatz mehrere Exemplare herstellen zu können. Zudem nahm die Anfertigung eines geschriebenen Buches viel Zeit in Anspruch: So erfährt man von einem Abt, er habe um 1100 in einem Jahr eigenhändig ein Buch mit Messe-Gesängen geschaffen, nämlich »das Pergament zubereitet, die Blätter eingerichtet, liniert, beschrieben, ausgemalt und die Texte mit Notenzeichen versehen«. Ein solcher Aufwand machte es nötig, den Arbeitsablauf in der Schreibstube, dem »Skriptorium«, aufzuteilen. Hier arbeiteten zuweilen mehrere Schreiber, ein Korrektor und ein Maler an demselben Buch unter einem Leiter, der organisierte und überwachte. Möglich war das nur in großen Klöstern, wo man über viele Mönche verfügte, die »in Stühlen sitzend und schweigend an kunstvoll gefertigten Pulten schrieben«.
 
Lesen und Schreiben lernte man in der Schule, in der Regel an lateinischen Texten. Für das Schön-Schreiben, die »Kalligraphie«, war jedoch besonderes Können erforderlich, das man im Skriptorium erwarb, manchmal auch unter Schmerzen: »Wenn du nicht schön schreibst, werde ich mit der Peitsche so auf deinem Rücken 'schreiben', dass du mir schluchzend ein klägliches Lied singst. Junge, lerne die vielfältigen Formen der Buchstaben malen, auf dass dein Rücken keine Prügel erleide«, ermahnte ein Lehrer seinen Schüler. Zuspruch fand dagegen ein anderer Anfänger: »Du wirst dir das Schreiben trefflich aneignen, denn du hast lange, geschmeidige Finger.« Die Schriftkunst musste also mühevoll erlernt werden. Gar mancher gestandene Skriptor hielt am Ende seiner Abschrift den Hinweis für nötig: »Wer sich nicht aufs Schreiben versteht, glaubt, dass es keine Mühe sei; zwar schreiben drei Finger, aber der ganze Körper arbeitet mit!« Daher war die Zahl derer, die diese Kunst beherrschten, stets geringer im Vergleich zu denen, die lesen konnten.
 
Vier Dinge benötigt der Schreiber, heißt es in einem Epigramm des 12. Jahrhunderts: die Feder von der Gans, die Hörner vom Rind für die Tinten, das Fell vom Schaf, dazu Dornen, um Pergament beziehungsweise Tinten herzustellen. Längst war in Vergessenheit geraten, dass man in der Antike vorwiegend mit dem Rohr (»calamus«) aus Schilf und mit Rußtinte auf Papyrusblättern geschrieben hatte, die aus dem Mark der Papyrusstaude zubereitet und zu einer Rolle zusammengeklebt waren. Vergessen war auch, dass das Papyrus-Monopol Ägyptens schon im 2. Jahrhundert v. Chr. zur Benutzung von Pergament geführt hatte, das die Christen dann bevorzugten, weil es mit Farben bemalt, zu Heften (»Lagen«) gefalzt und zum Buch zwischen Holzdeckeln gebunden werden konnte. Ein solcher »Kodex« war haltbarer als die Papyrusrolle, wenn auch nicht billiger; denn eine mittelalterliche Vollbibel erforderte die Häute von etwa 500 Kälbern, Schafen oder Ziegen. Lediglich lateinische Ausdrücke wie »Volumen« für den Buchband (englisch »volume«) und »Explicit« für das Ende eines Werkes (= es ist ausgerollt) erinnern noch an die antike Form. Der Gebrauch von Papier jedoch, das die Araber über Sizilien und Spanien im Abendland bekannt machten, kam erst im 13. Jahrhundert auf. Der neue Beschreibstoff wurde vor allem in Universiäten, Kanzleien und Schulen angenommen und hat das Pergament in der frühen Neuzeit bald völlig verdrängt, weil es sich zum Drucken besser eignete, auch wenn Gutenberg um 1453 für den Erstdruck seiner Bibel noch beide Materialien benutzte.
 
Eine Miniatur aus dem 12. Jahrhundert gibt lebensnah Einblick in die Arbeitswelt einer mittelalterlichen Schreibstube: Der Schreiber, der vor dem Löwenpult mit den Schreibutensilien sitzt, während zu seinen Füßen der junge Gehilfe mit dem Pinsel Rankenmalen übt, wird bei der Arbeit von einer Maus gestört, die sich auf dem gedeckten Tisch über das Mahl hermacht. Ärgerlich zielt der Meister mit dem Bimsstein nach ihr und flucht: »Elende Maus, zu oft machst du mich zornig; Gott verdamme dich!« Die vornehme Kleidung des Schreibers, das reiche Mobiliar und das üppige Essen weisen auf ein Domstift als Ort des Geschehens hin.
 
Lesen, Schreiben, Abschreiben und Ausmalen von Büchern waren im Mittelalter verdienstvolle, ja gottgefällige Tätigkeiten. Sie hatte Cassiodor (✝ 583), nach dem Untergang des Römischen Reiches den Verfall des antiken Bildungswesens vor Augen, den Mönchen seines Klosters Vivarium in Süditalien so nachhaltig ans Herz gelegt, um die »heiligen« Schriften - Bibel, Kirchenväter -, aber auch zum Lernen benötigtes profanes Schrifttum zu bewahren, dass noch im 14. Jahrhundert ein Zisterzienser sein Schreiben so begründete: »Es kommt den Mönchen zu, das Wort Gottes, wenn sie es schon nicht mit dem Mund verkünden können, mit den Händen zu predigen.« Auch der Ordensgründer Benedikt von Nursia (✝ 547) forderte in seiner Regel, »fromme Bücher« zu lesen, was ihr Vorhandensein in einer Bibliothek voraussetzte. Doch gelang es erst Karl dem Großen, per Verordnung durchzusetzen, dass Klöster und Bischofskirchen im Frankenreich über Schule, Skriptorium und Bibliothek verfügten und nur authentische, von Fehlern gereinigte Texte in Gottesdienst und Unterricht verwendet wurden. Der Schreiber einer Bibel, die König Karl in Auftrag gegeben hatte, wünschte ihm darauf »für immer Christi Gnade«, ein Lohn, den sich viele Skriptoren erhofften. Karls Maßnahmen, die sein »Kultusminister«, der Angelsachse Alkuin, durch Verbreitung von Musterbüchern unterstützte, haben zur Rettung zahlreichen antiken Schrifttums geführt und vor allem dazu, dass man 400 Jahre lang fast überall in Europa in Männer- und Frauenklöstern wie in Chorherren- und Frauenstiften die gleiche Schrift benutzt hat: die karolingische Minuskel. Erst ab 1100 setzte eine stilistische Veränderung der karolingischen Schrift ein: Sie wurde enger und steiler, sodass die Buchseite im 14. Jahrhundert einem Gewebe (»textura«) glich. Italiens Humanisten schmähten diesen Schriftstil als »gotisch«, ahmten daher die vermeintlich »antike« karolingische Minuskel in ihrer Buchschrift nach und schufen eine neue Gebrauchsschrift. Diese sind als »Antiqua« und »Kursive« in den Buchdruck eingegangen und seither weltweit in Gebrauch.
 
Allerdings stellte noch eine Generation nach Gutenberg der gelehrte Abt Johannes Trithemius die Beständigkeit des Druckens auf Papier infrage und pries in seinem Werk »Lob auf die Schreiber« von 1492 den Wert des Abschreibens, überzeugt von der Wahrheit der Erzählung, dass man Jahre nach dem Tod eines fleißigen Schreibermönchs drei Finger seiner rechten Hand im Grabe unversehrt gefunden habe.
 
Dr. Jürgen Stohlmann

Universal-Lexikon. 2012.

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